Wer eine eher klassische Vorstellung davon hat, was Skulptur ist, wird in Marl irritiert und eines Besseren belehrt. Dazu überwindet das Museum Glaskasten Grenzen: Durch die Offenheit der Räume gibt es kaum ein Innen und Außen.
Der große Creiler Platz in Marl wird gesäumt vom Einkaufszentrum Marler Stern und lang gezogenen Hochhäusern, an einer Seite begrenzt vom Citysee und insgesamt beherrscht von den beiden Verwaltungstürmen und zahlreichen Großplastiken verschiedener Materialien.
Einige fügen sich in die von Beton geprägte Umgebung ein. Andere schaffen Gegensätze. Und Skulpturen beschreiben den äußeren Raum des Skulpturenmuseums, das mit seiner durchgängigen Glasfassade im Erdgeschoss des Rathauses komplett transparent angelegt ist.
Neue Sichten auf die Kunst gibt es hier allemal. Die Stadt und die Kunst in der Stadt sind anders, als man heute Stadt und Kunst kennt. Ein oder mehrere Blicke durch die Glasfassade ersetzen einen Besuch der ständigen Sammlung aber nicht – hier sieht man das Außen von innen ganz neu.
Der Rundgang im Glaskasten beginnt gleich mit einem visuellen Schock: Im Eingangsbereich des Skulpturenmuseums stolpert man fast über die Objekt-Montage „Mit(h)ropa“ (1974) von Wolf Vostell. Da liegt ein ausgestopftes Kalb wie überfahren vor einem monströsen schwarzen Buik Electra 225.
Der riesige Wagen wurde zum einen durch das Tier gestoppt und wird außerdem durch den ihn befallenen Beton am Weiterfahren gehindert. Auf der Motorhaube ist ein in Fahrtrichtung gerichtetes Gewehr angebracht. In den Türen sind auf jeder Seite Fernseher eingelassen. Die Leinwand vor dem Wagen zeigt drastische Schlachthaus-Szenen und sind nichts für schwache Nerven.
Aber man selbst wird auch zum Kunstwerk, denn eine Kamera filmt den Besucher und zeigt ihn im TV.
Im Inneren des Fahrzeugs sind an großen Fleischerhaken Gummistiefel wie das Fleisch aus den Filmen aufgehängt. Im Kofferraum ist eine Schreibmaschine eingebaut.
Der Titel der Arbeit bezieht sich auf Mitteleuropa, der eingefügte Buchstabe „h“ deutet auf das Happening als eine Form der Aktionskunst. In einem noch heute hochaktuellen Begleittext erklärt Vostell sein verstörendes Werk selbst:
„Dieses Jahrhundert ist ja nicht so unschuldig und idyllisch, und ich empfinde es nicht so, und deshalb kann ich dem Publikum unschuldige und idyllische Motive nicht liefern.“
Von dieser Installation im Eingangsbereich gelangt der Besucher in den inneren Glaskasten, der 1982 im ehemaligen städtischen Verkehrsbüro zum Museum wurde. Im kleinen Glaskasten sind in erster Linie Kleinskulpturen der klassischen Moderne von Rodin über Gaugin bis Giacometti ausgestellt. Im direkten Nebeneinander treffen hier verschiedene Stile, Materialien und Oberflächen aufeinander.
Der Rundgang im großen Glaskasten wird von Gegenwartskunst beherrscht: Klangwände, Flugkörper, Neonschläuche, Videowände zeigen das vielseitige Repertoire des modernen Bildhauers und machen Spaß. Denn hin und wieder muss man als Besucher selbst aktiv werden, Klänge mit seinem eigenen Körper und ausschweifenden Bewegungen erzeugen, Skulpturen in Bewegung setzen.
Das Wechselspiel von Innen und Außen gelingt innerhalb der beiden Glaskästen schon sehr gut. Viel eindrucksvoller entfaltet sich das Konzept des transparenten Museums in der Beziehung des großen Glaskastens und des Außenraums. Denn eine im Museum aufgebaute Videowand ist derart zur Glasfassade hin ausgerichtet, dass sie ausschließlich den Betrachter außerhalb des Museums anspricht. Andererseits richtet sich ein großer Videocontainer, der hinter dem Museum im Außenraum steht, an Besucher innerhalb wie auch außerhalb des Skulpturenmuseums.
Also: Wir finden das Museum top. Von einem Besuch mit Kindern raten wir allerdings ab.
Es finden regelmäßig Wechselausstellungen statt, einmal im Jahr werden die Marler Medienkunstpreise vergeben und die Gewinner ausgestellt.
Creiler Platz
45768 Marl
Tel: 02365 992257
Öffnungszeiten:
Dienstag – Freitag 11-17 Uhr, Samstag und Sonntag 11-18 Uhr, Eintritt frei
www.skulpturenmuseum-glaskasten-marl.de
[Text und Fotos: Silke König]
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